Die Dynastie der Saadier

Die Saadier-Dynastie markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der marokkanischen Geschichte, indem sie den Übergang von den Berber-Imperien des Mittelalters zu den modernen, auf den Propheten Mohammed zurückgehenden, sharifischen Reichen der Frühen Neuzeit vollzog. 

Die Dynastie trat in einer Zeit tiefgreifender politischer und militärischer Krisen auf den Plan, als das Land von den zerfallenden Wattasidenherrschaften zerrissen und zugleich von zwei mächtigen äußeren Kräften bedroht wurde. Denn die europäischen Mächte , insbesondere Portugal, expandierten entlang der Atlantikküste und aus dem Osten drängte das Osmanische Reich.

Der Aufstieg der Saadier, die ihre Wurzeln in der Souss-Region des südlichen Marokkos hatten, beruhte auf dem Konzept des Sharifismus – der direkten Abstammung vom Propheten Mohammed. Diese dynastische Legitimation war bedeutend, da sie den Saadiern einen religiösen Rückhalt unter den lokalen Berberstämmen verschaffte und eine spirituelle Autorität begründete, die den militärisch geschwächten Vorgängerdynastien fehlte. 

Nur durch diese religiöse Verankerung konnte eine geeinte Front geschaffen werden, die sowohl in der Lage war, die christlichen Invasoren militärisch zurückzudrängen, als auch eine politische und religiöse Distanz gegenüber den sunnitisch-rivalisierenden Osmanen zu wahren. 

Die Verteidigung des islamischen Glaubens und des Territoriums gegen die portugiesische Präsenz an der Küste verlieh den Saadiern die nötige militärische Glaubwürdigkeit und politische Autorität, um die Nation zu konsolidieren.   

Die Saadier stiegen ursprünglich als religiöse und militärische Führer im Rahmen ihres Dschihads gegen die Portugiesen auf, die strategisch wichtige Küstenstädte besetzt hielten. Ihr Erfolg im Kampf gegen die europäischen Eindringlinge war die Grundlage ihrer politischen Autorität und ihrer Fähigkeit, Marrakesch einzunehmen. Die Notwendigkeit, einen Puffer gegen Europa zu bilden und zugleich die osmanische Aggression abzuwehren, bestimmte die gesamte Existenz der Dynastie.

Die Wurzeln des Aufstiegs und die Konsolidierung der Macht

Mohammed ech-Cheikh und die Etablierung Marokkos

Der entscheidende Schritt von einer regionalen Macht zur gesamtstaatlichen Dynastie wurde unter Mohammed ech-Cheikh (reg. 1544–1557) vollzogen. Er festigte die Herrschaft der Saadier und machte Marrakesch 1549 zur Hauptstadt, wodurch er das Land erfolgreich vereinigte. Nach seinem Tod wurde er in der Nekropole beigesetzt, die später als Saadier-Gräber bekannt wurde. Sein Sohn Abdallah al-Ghalib ließ an dieser Stelle ein Grabmal für ihn errichten und etablierte damit den zentralen dynastischen Bestattungsort.

Der Wendepunkt: Die Schlacht der Drei Könige (1578)

Der militärische Triumph, der die Saadier auf die Weltbühne katapultierte, war die sogenannte „Schlacht der drei Könige“ bei Ksar el Kebir 1578. Dort besiegten die Saadier das portugiesische Heer unter dem jungen König Sebastian vernichtend und beendeten die europäische Bedrohung für Jahrzehnte.

Der Sultan Ahmad, der Bruder des gefallenen Sultans Abd al-Malik, kam unmittelbar nach diesem entscheidenden Sieg an die Macht und erhielt als Zeichen seiner Führungsstärke und seines Mutes den Beinamen „al-Mansur“ — „der Siegreiche“. 

Die Schlacht von 1578 war die Grundlage der Goldenen Ära der Saadier. Der Reichtum, der aus den Lösegeldern für die hochrangigen portugiesischen Gefangenen erwirtschaftet wurde, diente als massives Startkapital für die gesamte nachfolgende Epoche. Ohne diese Einnahmen hätte der neue Sultan nicht die Mittel gehabt, um

  • die Osmanen diplomatisch zu beschwichtigen
  • eine starke Armee aufzubauen, die türkische, Kabylen und Morisken umfasste
  • die ehrgeizigen und teuren architektonischen Projekte wie den El-Badi-Palast in Auftrag zu geben. 

Das Goldene Zeitalter der Saadier unter Sultan Ahmad al-Mansur (1578–1603)

Die Herrschaft von Ahmad al-Mansur gilt als der Höhepunkt der Saadier-Dynastie, gekennzeichnet durch diplomatische Raffinesse, wirtschaftliche Neuausrichtung und beispiellosen architektonischen Prunk.

Geopolitische Meisterleistung und Unabhängigkeitsbestrebungen

Al-Mansur musste das fragile Gleichgewicht zwischen dem christlichen Europa und dem mächtigen osmanischen Reich aufrechterhalten, das Marokko über seine algerischen Vasallen zu vereinnahmen versuchte. Seine Strategie beruhte auf dem Prinzip, die westeuropäischen und osmanischen Rivalitäten geschickt auszunutzen, um die eigene Unabhängigkeit zu maximieren.   

Die Strategie gegenüber den Osmanen

Zu Beginn seiner Herrschaft erkannte Al-Mansur zwar die Oberhoheit des osmanischen Sultans formell an, blieb jedoch in der Praxis souverän. Die Beziehungen waren angespannt, insbesondere nachdem Al-Mansur 1579 eine spanische Gesandtschaft wohlwollend empfangen hatte. Berichten zufolge trat er 1581 das Symbol der osmanischen Oberhoheit demonstrativ mit den Füßen, was seine Unabhängigkeit untermauern sollte, jedoch eine Konfrontation auslöste.   

Als die Osmanen begannen, einen Angriff zur Eingliederung Marokkos in die Einflusssphäre Algeriens vorzubereiten, reagierte Al-Mansur mit Realpolitik. Er schickte 1582 eine Botschaft mit beträchtlichen Geschenken, darunter ein Tribut von 100.000 Goldmünzen, als Respektbekundung an den osmanischen Sultan Murad III. Diese finanziellen Zugeständnisse führten dazu, dass der osmanische Sultan den Angriff abbrach. Obwohl Algerien weiterhin versuchte, die marokkanische Botschaft in Istanbul zu behindern, stabilisierten sich die Beziehungen, sodass Al-Mansur ab 1587 genug Vertrauen in seine Sicherheit hatte, um die jährlichen „Geschenke“, die die Osmanen als Tribut interpretierten,  einzustellen.   

Die Anglo-Marokkanische Allianz

Gleichzeitig schmiedete Al-Mansur eine strategische Partnerschaft mit England unter Königin Elisabeth I., die auf der gemeinsamen Feindseligkeit gegenüber dem spanischen König Philipp II. basierte. 

Diese Allianz förderte einen florierenden Handelsaustausch. Marokko exportierte strategisch wichtige Güter wie Zucker, Salpeter (für Schießpulver) und Straußenfedern, während es im Gegenzug englische Edelprodukte, insbesondere Feuerwaffen und Stoffe, erhielt. Die diplomatischen Beziehungen waren eng. Al-Mansur ging sogar so weit, Königin Elisabeth I. eine gemeinsame Eroberung Amerikas vorzuschlagen.   

Die Außenpolitik Al-Mansurs war somit eine Gratwanderung: Er sicherte die Unabhängigkeit, indem er die europäischen Mächte (England) gegen die iberischen und die Osmanen ausspielte, während er lebenswichtige Rüstungsgüter und diplomatischen Schutz erwarb.

Al-Mansur konsolidierte die Staatsfinanzen durch die Neuorganisation der Verwaltung. Die Wirtschaft Marokkos stützte sich maßgeblich auf den Anbau und den Export von Rohrzucker sowie auf den florierenden Handel mit Europa.

Ökonomische Expansion und der Griff nach dem Sudan

Die aufwendige Hofhaltung, die Notwendigkeit des Unterhalts einer modernen Armee sowie die monumentalen architektonischen Projekte Al-Mansurs erforderten einen stetigen Zufluss an Edelmetallen. Gold, das traditionell über den Transsaharahandel nach Marokko gelangte, wurde zur Priorität.

Die Eroberung Timbuktus

Um die Gewinne aus dem Transsaharahandel zu sichern, brachte man bereits 1584 die strategisch wichtigen Salzminen von Taghaza in der Sahara unter marokkanische Kontrolle. Al-Mansur, getrieben vom Wunsch, seinen Titel als „Goldener Sultan“ zu rechtfertigen und seinen finanziellen Bedarf zu decken, unternahm zwischen 1590 und 1591 einen gewaltigen und riskanten Feldzug durch die Sahara. Das Ziel war die Zerschlagung des geschwächten Songhaireiches und die Eroberung der Handelszentren Timbuktu und Gao am Niger.   

Dieser Feldzug und die damit verbundene erfolgreiche Überquerung der Sahara durch die Armee Al-Mansurs waren ein militärischer Erfolg, der dem Sultan kurzfristig eine „große Beute“ einbrachte und den marokkanischen Einfluss tief nach Süden ausdehnte. 

Die paradoxen Langzeitfolgen des Feldzugs

Obwohl der Timbuktu-Feldzug kurzfristig die Kassen des Sultans füllte und ihm zu weltweitem Ansehen verhalf, enthielt dieser militärische Triumph einen strategischen Fehler, der die langfristige Wirtschaft Marokkos schwächte. Die militärische Zerschlagung des Songhaireiches führte zu einer massiven Störung des organisierten und etablierten Handels in der westlichen Sahara. Anstatt den Goldfluss dauerhaft zu sichern, wurden die Handelsrouten abgelenkt. Der Transsaharahandel verlagerte sich zunehmend nach Osten, hin zu Tunis und Tripolis, was den Handel Marokkos mit dem Sudan nach dem Tod Al-Mansurs erheblich beeinträchtigte.   

Die Saadier-Wirtschaft unter Al-Mansur war stark von Kriegsgewinnen (1578), Monopolen (Zucker) und kurzfristigen Goldzuflüssen (1591) abhängig. Diese Struktur war hoch lukrativ, aber nicht robust genug, um die Stabilität des Reiches zu gewährleisten, sobald die Haupteinnahmequellen des Südens gestört wurden.

Der architektonische Ausdruck des Ruhms

Die Architektur unter Ahmad al-Mansur diente als bauliche Manifestation seiner Macht, seines Reichtums und seiner Souveränität gegenüber europäischen und osmanischen Rivalen.

Der El Badi Palast 

Die Bauarbeiten am El Badi-Palast in Marrakesch begannen unverzüglich nach dem Sieg bei Ksar el Kebir im Jahr 1578 und wurden bis 1593/1603 fortgesetzt. Der Name „El Badi“ bedeutet „Der Unvergleichliche“ und drückte den dynastischen Anspruch des Sultans aus, ein überragendes, Gott und seiner eigenen Herrlichkeit würdiges Bauwerk zu schaffen.   

Der Palast erstreckte sich über eine Fläche von etwa 135 × 110 Metern und war von einer Stampflehmmauer umgeben. Der zentrale Innenhof war in vier Segmente unterteilt, die üppig mit Obstbäumen und Blütensträuchern bepflanzt waren.   

Das herausragende Merkmal des Palastes war seine bis dahin in Marokko unbekannte, außergewöhnlich reiche Marmorausstattung. Es wird angenommen, dass genuesische oder florentinische Steinmetze beteiligt waren. Die Saadier nutzten diese Architektur, um ihre Gleichrangigkeit mit europäischen Mächten und ihre Unabhängigkeit von den Osmanen zu untermauern. Heutzutage zeugen nur noch wenige, aufgrund ihres Gewichts schwer zu transportierende, bearbeitete Marmorkapitelle vom einstigen Glanz der Anlage.

Die Saadier-Gräber 

Als zweite wichtige architektonische Hinterlassenschaft dienen die Saadier-Gräber in Marrakesch, die von 1557 bis zum Ende der Dynastie 1664 als zentrale Nekropole dienten. Die Gräber schließen sich an den hinteren Teil der Kasbah-Moschee an.   

Die Anlage beherbergt die Gräber von sieben Sultanen, 62 Mitgliedern ihrer Familien und über 100 weiteren Gräbern. Das Zentrum der Pracht bildet das Große Mausoleum, bekannt als der „Saal der zwölf Säulen“, das die Ruhestätte von Ahmad al-Mansur selbst, seiner Frau Lalla Aisha as-Shabaniyya und seinen Nachfolgern wie Moulay Zidan enthält.  Dieses Mausoleum ist ein herausragendes Beispiel maurischer Dekorationskunst. Es zeichnet sich durch eine kunstvoll geschnitzte Zedernholzkuppel, feinsten Stuck und die Verwendung von Carrara-Marmor aus Italien aus. 

Niedergang der Saadier, Erbfolgekrieg und die Tilgung der Erinnerung

Der Tod Ahmad al-Mansurs im Jahr 1603 markierte das Ende der Goldenen Ära und den unmittelbaren Beginn des Niedergangs. Die Dynastie litt unter mangelnder institutioneller Resilienz und geriet schnell in einen Erbfolgekrieg („Fitna“), da die Söhne um die Macht rangen. Trotz der Bemühungen von Nachfolgern wie Moulay Zidan, der Marrakesch beherrschte, brach die zentrale Autorität zusammen. Dies führte 1664 zum offiziellen Ende der Saadier-Herrschaft.   

Die Damnatio Memoriae durch die Alaouiten

Die nachfolgende Alaouiten-Dynastie, die ebenfalls sharifische Wurzeln hatte, musste die Erinnerung an die Saadier radikal auslöschen, um ihre eigene Legitimität unangefochten zu etablieren. Dies führte zu einem der erfolgreichsten Akte der historischen Gedächtnisauslöschung in der marokkanischen Geschichte unter Sultan Mulai Ismail (reg. 1672–1727).

Die systematische Zerstörung des El Badi-Palasts

Mulai Ismail beraubte den El Badi-Palast systematisch all seiner Pracht. Der Abriss war ein hochpolitischer Akt. Er diente neben der Gewinnung von Baumaterial vor allem der Auslöschung des Saadier-Ruhms. Marmorplatten, Fliesen und selbst die schweren Säulen wurden abgetragen und auf Lasttieren über die Berge des Mittleren Atlas transportiert. Diese Materialien wurden in Meknès, der neuen Königsstadt Ismails, beim Bau seiner eigenen Paläste wiederverwendet. Ein großer Teil der Materialien ging dabei zu Bruch. Der Palast von El Badi blieb als imposante Ruine zurück.   

Die Verbergung der Saadier-Gräber

Das Schicksal der Saadier-Gräber war gegensätzlich, aber kausal mit der politischen Auslöschung verbunden. Mulai Ismail ließ die Nekropole mit hohen, schmucklosen Stampflehm-Mauern umschließen, um das Andenken an die Dynastie zu tilgen und sie aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verbannen. Ironischerweise bewahrte dieser Akt der Verbergung die Gräber vor der Plünderung.  

Die Gräber gerieten für über 200 Jahre in Vergessenheit und wurden erst 1917 zufällig wiederentdeckt. Heute sind diese Gräber, die durch den Akt der Verleugnung überlebten, die bedeutendste und besterhaltene architektonische Hinterlassenschaft der Saadier-Dynastie.   

Das Schicksal der beiden Hauptbauwerke der Saadier unterstreicht die Natur des Machtwechsels. Der Palast wurde zerstört, weil er zu prunkvoll und daher zu erinnerungswürdig war, während die Gräber überlebten, weil sie erfolgreich versteckt und aus dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht wurden.

Fazit: Das komplexe Erbe der Saadier

Die Saadier-Dynastie war ein Phänomen der frühen Neuzeit, das durch die strategische Nutzung des Sharifismus und die militärischen Erfolge Marokkos aus einer Periode der Schwäche hervorging. Unter Ahmad al-Mansur erreichte das Reich einen Höhepunkt diplomatischer und wirtschaftlicher Raffinesse. Al-Mansur sicherte die Unabhängigkeit Marokkos gegenüber Europa, insbesondere gegenüber Portugal, und behauptete sich gegen den Expansionsdrang des Osmanischen Reiches.

Das Kernproblem der Dynastie war ihre mangelnde institutionelle Resilienz, insbesondere der Zusammenbruch der zentralen Autorität unmittelbar nach dem Tod des starken Herrschers Al-Mansur. Zudem trugen seine ambitionierten, aber kurzsichtigen imperialen Unternehmungen im Sudan, die den Transsaharahandel störten, zur wirtschaftlichen Erosion bei.

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